Dr. Matthias Burchardt und Prof. Dr. Rainer Dollase äußern sich zur Wiedereinführung von G 9 in Bayern - lesen Sie nachfolgend die beiden Kommentare:
Kommentar
Heike Schmoll sollte Recht behalten: Schulpolitik kann nicht auf Dauer gegen den Willen der Eltern betrieben werden! Die Rückkehr Bayerns zu G9 ist eine Zäsur in der Bildungspolitik und doch nur ein erster Schritt: Die anderen Bundesländer sollten dem Beispiel zügig folgen und politischen Mut zum Richtigen beweisen.
Halbherzige und ängstliche Vorschläge, wie z.B. "Schulen sollen selbst entscheiden“, bringen uns nicht weiter, sondern zergliedern ohne Not die Schullandschaft.
Weiterhin muss nun – je schneller desto besser – der nächste Bremsklotz auf dem Weg zu guter Bildung abgeräumt werden: Die Kompetenzorientierung! Und zwar in allen Schulformen! Dann sind Politiker mit Weitblick und klarem Kompass gefordert, die Unwuchten aus dem System zu entfernen. Das bedeutet vor allem: Mehr Duale Ausbildung als Wohlstandsperspektive für Schüler anstatt der fragwürdigen Akademisierung mit ungewissem Ausgang.
Es ist geradezu beschämend, dass wir immer noch via OECD, EU und Bertelsmann die Stärken unserer Bildungskultur schlechtgeredet bekommen, während der ungeliebte amerikanische Präsident vom Deutschen Bildungswesen lernen möchte.
Es ist höchste Zeit, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren! Wie man an Bayern sieht, ist dies kein Gesichtsverlust, sondern ein Zeichen von Stärke.
08.04.2017
Dr. Matthias Burchardt, Akademischer Rat
Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie
und Pädagogik der Lebensspanne
Universität zu Köln
Kommentar
Ein Sieg der kulturellen Vernunft
- Bayern zurück zu G9
Bildungsreformen der Vergangenheit liefen nach dem Muster des „best practice“, vulgo „Ostereier suchen“,oder „Leuchtturmprojekte nachäffen“ ab. Gab es in den entlegensten Winkeln der Welt irgendetwas an Schule, was billiger, schillernder, schräger oder besser war, so reklamierte der „bildungsökonomische Komplex“ sofort dringenden Nachahmungsbedarf. Ob es die Erkenntnis war, dass zu lange Ferien den Bildungsstand der Schüler schrumpfen lassen (Hattie stellte für „summer vacation“ einen der wenigen negativen Effekte von d = - 0,02 fest) , oder in der DDR acht Jahre bis zum Abi gebraucht wurden, oder Gemeinschafts - Ganztagsschulen das britische und amerikanische Schulsystem dominieren, oder Lehrer in Peru weniger Geld als hierzulande bekommen, oder ein Bachelor und Master in Griechenland gemacht wurde, statt Vordiplom und Diplom - jedes dieser schrulligen Einzelresultate brachte eine hypernervöse Reformfraktion zum Glucksen.
Einer solchen „Perturbation“ (Niklas Luhmann) entsprang offenbar auch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf 8 Jahre. Die jetzt - Bundesland für Bundesland - wieder zurückgenommen wird, und dem G9 wieder Platz machen muss. Richtig so - das ist ein Sieg der kulturellen Vernunft.
Was ist kulturelle Vernunft? Nun - jede Gesellschaft ist ein Evolutionsprodukt wie die lebendige Natur. Hat man für die gewöhnliche Gebirgsschnecke, das Frühlings - Adonisröschen oder den borstigen Frauenmantel erkannt, dass ihre Gefährdung rabiaten und rigorosen Eingriffen in die Umwelt geschuldet ist, so war es wohl aufstrebenden Bildungsreformern zu mühsam, diese Überlegung auf unsere Bildungskultur anzuwenden.
Rabiate Eingriffe ins Bildungssystem, basierend auf wissenschaftlich grob unvollständiger Erkenntnislage (z.B. allein auf bildungsökonomischen Daten), führen zu vielen unerwarteten und unerwünschten Nebenwirkungen. Keine der aus dem Ausland nachgeahmten Reformen in der Schulstruktur hat bislang hierzulande praktisch und empirisch überzeugt: weder BA und MA, noch G8, noch verpflichtender Ganztag, noch die Einheitsschule, noch die Steigerung der Abi Quoten oder die im Prozess befindliche Entgliederung der Schulstruktur. Die Promoter belegen deren Erfolg nur mit selbstreferentiellen Daten - d.h. das wir es tun und erzwingen, das ist Erfolg genug. Wie geistig und wissenschaftlich armselig!
Ein Sieg der kulturellen Vernunft ist die Rückkehr zu G9. Weil sich darin komplexe Einsichten und Erfahrungen widerspiegeln, die den unterkomplexen Modellen - man könnte auch sagen - den populistischen Vereinfachungen von Politik, Medien und sich überschätzender empirischer Schul- und Unterrichtsforschung völlig unbekannt sind.
Deutschland ist ein erfolgreiches Land in jeder Hinsicht. Wir brauchen keine Reformen, sondern die Reform der Reformen. Gab es jemals einen voll überzeugenden, multiperspektiven und empirischen Beweis dafür, dass G8 irgendein existierendes Problem löst? Nein - im Gegenteil: unser Nachwuchs fühlte sich gehetzt, die akademische Allgemeinbildung litt (natürlich kann man in einem 9. Jahr noch viel lernen - schulisch und außerschulisch) und in NRW, dem Bildungsschlußlicht bei Ländervergleichen mit Berlin, Hamburg und Bremen zusammen, wollte keine Mehrheit auf das „G9 Ersatzgymnasium“ ( bekannt als Gesamtschule). Schließlich: ein verpflichtender Ganztag G8 passt nicht mehr zur Arbeitszeitflexibilisierung der Eltern.
Und nebenbei wurde durch G8 ein „unique selling point“ deutscher Bildungskultur leichtfertig aufs Spiel gesetzt: die außerschulische Pädagogik, das selbstbestimmte und freie, informelle Lernen, das reichhaltige Vereinsleben, die kulturelle Weiterentwicklung in Musik- und Kunstschulen. Die Rückkehr zu G9 ist deshalb ein Sieg der kulturellen Vernunft.
Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität Bielefeld, 08.04.2017
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